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  • AutorenbildEric Sons

Corona: Soziologische Reflektionen

Aktualisiert: 10. Mai 2020

Zusammenfassung:

Mit der Corona-Krise findet eine Aufwertung wissenschaftlichen Wissens eines bestimmten Typus statt. Zugleich sind die gesellschaftlichen Folgen der Krise ungewiss und die Möglichkeiten einer Modellierung zukünftiger Verläufe begrenzt. Die hyperkomplexe und hypermobile Weltgesellschaft hält den Atem an und sollte diese Pause nutzen, um über entschleunigte Alternativen für zeitliche, soziale und ökonomische Steigerungslogiken nachzudenken.

Ich bedanke mich bei Christa Paul, Dagmar Mierau, Sebastian Botzem und Frank Elster für viele wertvolle Hinweise.

1. Einleitung: Krisen und Steuerung

Die menschliche Geschichte kann als eine Geschichte der Abfolge von Krisen und der mehr oder weniger geglückten Bewältigung derselben beschrieben werden. Stabile gesellschaftliche Phasen ohne Kriege, Revolutionen und andere Bedrohungen wie Naturkatastrophen stellen menschheitsgeschichtlich betrachtet eher die Ausnahme als die Regel dar. Im 19. Jahrhundert haben sich Karl Marx und Friedrich Engels als intellektuelle Krisentheoretiker betätigt. Sie weisen in ihren Schriften darauf hin, dass sich Gesellschaften selten linear entwickeln und so gut wie nie in stabilen harmonischen Zuständen verharren. Vielmehr entwickeln sie sich über Klassenkämpfe und Widersprüche: Sie dynamisieren sich, wie der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf später gezeigt hat, mittels sozialer Konflikte und können sowohl untergehen als auch Sprünge auf neue Entwicklungsstufen schaffen.

Etwas holzschnittartig formuliert lässt sich sagen, dass in archaischen Gesellschaften, aber auch den stratifikatorischen Gesellschaften des Mittelalters Unglücke wie vor allem Seuchen („Der schwarze Tod“) und Naturkatastrophen als symbolische Zeichen, als göttergegeben und unabwendbares Schicksal betrachtet wurden. Moderne industrielle Gesellschaften erheben hingegen den Anspruch, Krisen und Katastrophen abzuwenden und geplant zu steuern. Naturkatastrophen testen die kollektive infrastrukturelle Resilienz moderner Gesellschaft. Sie zeigen auf, wie gut vorbereitet und flexibel große sozio-technische Systeme wie bspw. die Gesundheitssysteme verschiedener Länder auf die Katastrophe sind. Der Begriff der Naturkatastrophe ist dabei etwas irreführend. Denn in der globalisierten Welt stellen Naturkatastrophen keine reinen Naturphänomene dar, sondern sind häufig Folge und Teil übergeordneter sozial-ökologischer Problemzusammenhänge: Im Falle der Corona-Krise das Vordringen des Menschen in natürliche Lebensräume, die Kommerzialisierung von Wildtieren und die fehlenden Distanz zwischen Mensch und Tier auf Wildtiermärkten (was zu einer Übertragung gefährlicher Viren auf den Menschen führen kann).

Die politisch-ökonomischen Eliten der 70er Jahre bestanden überwiegend aus fortschrittsgläubigen Steuerungsoptimist:innen. Ökonomische Gefahren wie Rezessionen und (internationale) politische Krisen sollten mittels wissenschaftlich-technischer Mittel wie vor allem wissenschaftlichem Fachwissen antizipiert und prognostiziert werden. Antizipation und Prognose dienten dem Ziel Gefahren durch gezielte politische Maßnahmen präventiv einzuhegen: Eine antizyklische Wirtschaftspolitik, die versucht konjunkturelle Ausschläge zu minimieren, wäre ein Beispiel dafür. Dieses unilineare Steuerungsverständnis erfuhr seit den neoliberalen 90er Jahren eine Ausweitung, Zuspitzung und Beschleunigung. Vor dem Hintergrund (realer, aber auch imaginierter) globaler Kämpfe um (Finanz-)Kapital und Arbeit beziehungsweise um die Ansiedlung von Unternehmen wurde aufs nationale Tempo gedrückt. Steuerung zeichnet sich nun durch eine Kombination aus hierarchischer Kontrolle und marktbasierten Anreizen aus. Ziel der neuen Steuerungsmodelle war und ist es, Effizienzerhöhung und Outputkontrolle nicht nur für Unternehmen, sondern für alle Organisationen der Gesellschaft umzusetzen, um auf diese Weise kompetitive bzw. utilitaristische Handlungsweisen zu fördern. Viele Krankenhäuser in Deutschland wurden, nicht selten auf Kosten der Kinderabteilungen und Notaufnahmen, privatisiert und nach dem Vorbild von Unternehmen geführt, die untereinander konkurrieren sollen. In Zeiten von Corona spielen profitable Hüftoperationen plötzlich eine untergeordnete Rolle und die Krankenhäuser entdecken die solidarischen Vorteile gegenseitiger Kooperation.

2. Interventionen in „black boxes“

Steuerende Interventionen in Gesellschaften bringen immer viele verschiedene Wirkungen hervor. Neben den gewünschten auch solche, die nicht intendiert waren, sogenannte „nicht-intendierte Nebenfolgen“ (Ulrich Beck). Systemtheoretisch formuliert gleichen Interventionen in komplexen Systemen Eingriffen in „black boxes“. Die in systemtheoretischen Interventionstheorien beliebte Metapher der „black box“ verweist darauf, dass die inneren Gefüge selbstreferentieller Systeme wie Psychen, Organisationen oder Gesellschaften kaum oder nur zum Teil bekannt sind. Sie sind nicht nach einfachen kausalen Mustern geordnet, sondern enthalten viele Ursache-Wirkungsketten, die miteinander verwoben und rekursiv angeordnet sind. Deswegen misslingen direkte Eingriffe auch so häufig und verlangen nach einer sensibleren und prozessualen Vorgehensweise im Sinne von „trial and error“. Das Problem ist, dass Interventionen in komplexe Systeme Realexperimente (Krohn) darstellen, bei denen, anders als bei „künstlichen“ Experimenten im geschlossenen Labor, die Randbedingungen nicht vollends bekannt und deswegen auch nicht gesichert oder bewusst verändert werden können. Denjenigen, die intervenieren, bleibt keine Wahl als die Wirkungen ihrer Interventionen phänomenologisch zu beobachten – ein Beispiel dafür wäre die Verdopplungsrate der Corona-Erkrankungen – und aus ihren Beobachtungen abzuleiten wie erfolgreich die Intervention bzw. die einzelnen Interventionsschritte bspw. der Quarantäne jeweils gewesen sind. Und selbst dann ist wegen der multikausalen Verhältnisse komplexer Gesellschaften nicht sicher, dass sich die Wirkungen nur oder überwiegend auf die Interventionen zurückführen lassen. Letztlich handelt es sich, folgt man Attributionstheorien, um Zurechnungen auf vermutete Ursachen mit einer angebbaren, häufig eher durch Erfahrungswissen als durch Modellrationalitäten getragenen Plausibilität.


Dass Gesellschaften und die Politik der Wissenschaft hinsichtlich von Modellierung, Prognose und der Auswahl von Interventionsoptionen ein relatives Wahrheitsmonopol zuschreiben und ihr vertrauen, stellt alles andere als eine Selbstverständlichkeit dar. Beispielsweise wurde der Anspruch einer, wie man in den 70er Jahren formuliert hätte, „expertokratischen“ Elite, auf der Grundlage vermeintlich überlegenen, eigentlich aber technizistisch verkürzten Wissens, Entscheidungen bspw. über Technologiepfade oder die Implementation von Hochrisikotechnologien wie der Atomkraft zu treffen, seitens neuer sozialer Bewegungen wie vor allem der Ökologie- und Frauenbewegung massiv kritisiert. Damals haben viele Bürgerinnen und Bürger die Komplizenschaft von Politik und Wirtschaft hinterfragt, haben sich politisiert und sich mit wissenschaftlichem Wissen und dessen patriarchalen Überlegenheitsanspruch kritisch auseinandergesetzt: Was nützt eine statistisch seltene Eintrittswahrscheinlichkeit des Super-Gaus, wenn im Fall der Fälle ganze Landstriche radioaktiv verseucht werden und viele zehntausend Menschen sterben? Die soziale Figur des Gegenexperten bzw. der Gegenexpertin entstand, die Demokratie wurde politischer und für viele Menschen wieder lebensweltlich erfahrbar. Heute versuchen die Populist:innen von rechts sich als Gegenexpert:innen gegenüber einem vermeintlich linksliberalen Wissensblock aufzuspielen und können dabei immer wieder erstaunliche Erfolge verbuchen.

Das Image der Wissenschaft hat sich durch die Corona-Krise verbessert. Zumindest gilt dies für die Wissenschaften, die sich am naturwissenschaftlichen Paradigma orientieren, die also nach quantitativen und statistischen Methoden vorgehen. Um die Corona-Krise nicht nur zu modellieren, sondern auch gesellschaftlich verstehen und verarbeiten zu können, wären soziologische, geistes- und kulturwissenschaftliche, psychoanalytische, aber auch wissenschafts- und risikosoziologische Reflektionen nötig. Sie finden aber, wenn man sich die Talkshows im Fernsehen anschaut, in der Mainstream-Öffentlichkeit so gut wie nicht statt. Hegemonie des naturwissenschaftlichen Denkens also. Biomedizinische und demographisch-epidemiologische Wissenschaften als (neue) Leitwissenschaften?

Das Beispiel zeigt, dass die Wissenschaft in unzählige soziale Gruppen zerfällt, die untereinander konkurrieren und unterschiedlich kompatibel mit unterschiedlichen Politikverständnissen sind. Die sozial-institutionellen Kämpfe, die sich bspw. innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft in Deutschland oder auch Großbritannien bezogen auf „Public Health“ zwischen Verhaltensökonom:innen („nudging“) und Sozialmediziner:innen („Prävention“) abspielen, bleiben der Öffentlichkeit dabei häufig verborgen.


Vor dem Hintergrund von fake news und der Ausbreitung diverser Verschwörungstheorien ist es grundsätzlich begrüßenswert, dass sich das Verhältnis neuer sozialer Bewegungen und der Öffentlichkeit zur Wissenschaft heute wieder positiver darstellt. Die Friday-For-Future- Bewegung beruft sich auf die Studien des IPCC („Weltklimarat“) und kooperiert mit Wissenschaftler:innen, um der eigenen Position mehr szientifisches Gewicht, Legitimität und Glaubwürdigkeit zu verleihen. Ähnliches gilt für Corona: Sowohl die politische Klasse als auch große Teile der Gesellschaft schreiben dem Robert- Koch-Institut und anderen Expert:innen eine hohe Glaubwürdigkeit zu und richten die Maßnahmen nach deren Maßgabe aus. In diesen neuen Konstellationen liegt zunächst eine Chance: Überlebenswichtige Entscheidungen können wieder stärker auf der Grundlage von Fakten und rationalen Szenarioanalysen, mithin also weniger auf der Grundlage von verhaltensökonomischen Ideologien, Affekten, Verschwörungstheorien und Wunschdenken getroffen werden. Und ganz nebenbei findet eine Relegitimierung etatistischer Ordnungs- und Gesundheitspolitik statt: Der Staat wird von den Bürgerinnen gerade in Corona-Krisenzeiten als seriöse Ordnungsmacht wieder geschätzt. Von Staatsversagen ist im Angesicht der Krise, zumindest bis jetzt, nichts zu sehen. Dass demokratieferne Regime in Osteuropa und Südasien die Corona-Krise nutzen, um ihre Macht weiter zu festigen und die Zivilgesellschaft zu schwächen, überrascht wenig und sollte seitens der internationalen Gemeinschaft weiter im Auge behalten werden.

3. Prognosen? Fast unmöglich!

Wissenschaftliches Wissen ist evidenzbasiertes oder hermeneutisch „durchgearbeitetes“ Wissen, d.h. ein Wissen, welches durch verschiedene Filter der sozialen Kontrolle („peer review“) geflossen ist. Die Corona-Krise enthüllt wie voraussetzungsvoll der Alltag in der Moderne organisiert ist. Sie zeigt wie viele infrastrukturelle bzw. sozio-technische Systeme im Hintergrund einigermaßen lautlos funktionieren müssen, damit die Menschen ihren Alltagsgeschäften und Routinen ungestört nachgehen können: Energieversorgung, Verkehr, Bildung. Die Corona-Krise erschüttert das Alltagsleben, in dem die Bürgerrechte massiv eingeschränkt werden. Sie legt aber auch die Kontingenz von Alltag frei: Leben und Handeln geht auch ganz anders. Wir können Sport treiben, weil uns die frische Luft gut tut und das Chillen und der Müßiggang danach noch angenehmer sind, nicht primär weil wir abnehmen und uns für noch bessere Arbeitsleistungen körperlich optimieren wollen.

Die genannten Wissenstypen (Alltagswissen, quantitatives und hermeneutisches Wissen) verfügen über eigene Erkenntniswege und ihre eigene Dignität und können nicht untereinander ersetzt werden. Auch wenn wissenschaftliches Wissen geprüftes Wissen ist, ist seitens der Gesellschaft noch lange keine Wissenschaftsgläubigkeit angesagt. Es wäre ein Wunschdenken zu glauben die Wissenschaft und ihre Prognosen seien Ausdruck absolut sicheren Wissens. Wissenschaftliches Wissen und wissenschaftliche Prognosen basieren immer auf Prämissen, die von Menschen gesetzt werden: Das gilt für Szenarien der Ausbreitung von Corona genauso wie für die des Klimawandels. Gegenüber den Corona-Szenarien kann eine skeptische Grundhaltung nicht schaden: Es ist beispielsweise wenig erstaunlich, dass sich die Anzahl der Corona-Kranken kontinuierlich erhöht, es werden ja auch immer mehr Personen in Deutschland getestet. Und welchen Wert haben Modelle, die mittels eines Vergleichs der Verbreitung der Corona-Krankheit in unterschiedlichen Ländern Strukturmuster herausarbeiten wollen, ohne dabei die gewiss hohe Dunkelziffer der Ansteckungen zu beachten oder als unscharfe Variable modellieren zu können?

Wissenschaftliches Wissen ist heute vermehrt probabilistisches Wissen mit einer gewissen Irrtumswahrscheinlichkeit, d.h. Wissen, welches maximal Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten begrenzt definierbarer Szenarien angeben kann. Szenarien und Modelle bilden die Wirklichkeit nur zum Teil ab, sonst wären es keine Modelle. Szenarien können aufgrund systematischer Modell-Prämissen zu unterschiedlichen Ergebnissen bzw. Prognosen führen, wirklich ernst nehmen sollte man Modellierungen aber erst dann, wenn sie mit ausreichend empirischen Daten gefüttert werden. Nicht nur für die Interventionen wie bspw. den Kontaktbeschränkungen, sondern auch für die Corona-Krise selbst gilt, dass es ökonomische, politische und soziale Auswirkungen geben wird, die niemand, auch nicht die Wissenschaft, vorausgesehen hat und voraussehen konnte. Beispielsweise ist es völlig offen, ob die Corona-Krise dem amerikanischen Präsidenten Donald Trump wegen seiner zögerlichen und zynischen Haltung schaden und das Amt kosten wird oder ob es ihm, wie so häufig, gelingen wird seine Fehler populistisch als Erfolge umzudeuten. Es hängt von einer, insofern es sie noch gibt, kosmopolitischen Weltgesellschaft ab, ob die Atempause, die uns die Corona-Krise verschafft, dafür genutzt werden kann, über, Thomas Piketty lässt grüßen, Wege nachzudenken einen globalisierten Kapitalismus und protektionistischen Nationalismus zu zähmen und Utopien für einen nachhaltigen, d.h. „nicht-imperialen Lebensstil“ (Ulrich Brand) zu entwickeln.

4. Risikorealismus und Gefahren

In komplexen Gesellschaften, die in unterschiedliche Teilbereiche wie Wissenschaft, Politik, Kunst, Ökonomie etc. zerfallen, hat die Wissenschaft, auch wenn sie gerade dabei ist, ihre Deutungshoheit zu verbessern, kein unbedingtes Wahrheitsmonopol. Sie kann für sich nicht den Anspruch erheben, das Ganze der Gesellschaft in sich abzubilden und zu präsentieren. Handlungspraktisch ist sie darauf angewiesen, in deliberative Prozesse mit der Öffentlichkeit und der politischen Klasse einzutreten, um Gehör zu finden. Denn entschieden werden muss, auch wenn das Wissen begrenzt ist. Risikosoziologisch formuliert: Kollektives Entscheiden vor dem Hintergrund von Ungewissheit und Nicht-Wissen steht an. Das Positive daran mit Blick auf die Corona-Krise in Deutschland: Dass überhaupt entschieden und die Mortalitätsrate nach unten gedrückt werden kann, zeugt davon, dass noch gehandelt und allerschlimmste Gefahren höchstwahrscheinlich abgewendet werden können.

Die Gesellschaft sollte, was ihre Erwartungen an die Wissenschaft betrifft, realistisch sein: Es ist der Wissenschaft nicht möglich alle „Schwarzen Schwäne“ (Taleb) vorauszusagen, die unsere Gesellschaft treffen könnten. Kritisch angemerkt aber werden muss, dass viele Erkenntnisse die politischen Eliten offensichtlich nur zeitversetzt erreichen oder aufgrund von Kapitalverwertungsinteressen geleugnet und psychologisch abgewehrt werden: Bei den Risikostudien, die von Katastrophensoziolog:innen Anfang der 90er Jahre erstellt wurden, standen ganz oben auf der Liste: Klimawandel, internationaler Terrorismus und Finanzmarktcrash!

Es ist legitim, wenn uns die Corona-Krise bezogen auf die Produktivität und Liquidität vor allem der kleinen und mittelständischen Betriebe sowie Freischaffender, aber auch die Belastungen, die auf das Gesundheitssystem zukommen, besorgt. Besorgniserregend ist auch die Zunahme von häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen. Es ist zu befürchten, dass die Schwächsten der Gesellschaft, wie bspw. Kinder aus Elternhäusern mit Multi-Problemlagen, am stärksten unter den Schulschließungen leiden werden und um ihre körperliche sowie seelische Unversehrtheit fürchten müssen. Daran sieht man: Menschen werden vor der Corona-Krise mitnichten alle gleich, vielmehr trifft sie vulnerable Gruppen mit größerer Wucht. Das gilt nicht zuletzt auch für Geflüchtete in Griechenland und der Türkei.

Die größte Sorge sollte aber sein, dass die Corona-Krise die Aufmerksamkeitsökonomie über einen langen Zeitraum vollends dominiert und die viel gefährlichere globale Krise des Klimawandels in den Hintergrund drängt. Und auch wenn die Corona-Krise allein schon wegen der ganzen Videokonferenzen und Webinare einen Digitalisierungsschub mit sich bringen dürfte, sind die meisten und schon gar nicht alle direkten gesellschaftlichen Interaktivitäten keinesfalls dauerhaft und vollumfänglich online ersetzbar, das gilt ganz sicher für die meisten Praktiken der Sozialen Arbeit und für pädagogische Tätigkeiten schlechthin.

5. Konklusionen

Krisen wie die Corona-Pandemie stellen Bifurkationspunkte bzw. Gabelungspunkte da, die Entscheidungen erfordern, aus denen Gefahren oder/und Chancen erwachsen können. Wir sollten die in der Krise steckenden Chancen nutzen, ohne die sozialen und politökonomischen Gefahren bspw. einer Rezession zu unterschätzen. Befürchtet werden muss, dass es im Zuge einer weltweiten Rezession zu nationalen und internationalen Verteilungskämpfen um knapper werdende monetäre Ressourcen kommen wird und dass die Länder des Südens dabei wie so häufig auf der Strecke bleiben.

Das Erfreuliche ist zudem manchmal auch das Bedenkliche: Wenn es in liberalen Gesellschaften im Krisenfall so reibungslos gelingt Bürger- und Freihheitsrechte massiv einzuschränken, also Demokratie und Wirtschaft fast komplett herunterzufahren, stellt sich die Frage, inwieweit gelingende Testläufe dieser Art zukünftig missbraucht werden könnten. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass Demokratie als Lebensform ihre eigenen normativen und lebensweltlichen Voraussetzungen nicht garantieren kann, sondern durch das Handeln einer lebendigen und kritischen Zivilgesellschaft immer wieder hergestellt und bspw. auch im Sinne einer Demokratisierung der Wirtschaft weiter entwickelt werden muss.

Die Corona-Krise zeigt, dass die Menschen der Industrienationen ihre Lebensweise in eine nachhaltige Richtung verschieben und dabei auch etwas gewinnen könnten: Es ist möglich die Mobilität einzuschränken und Verhandlungen online als Videokonferenz zu organisieren und auf diese Weise massiv Co2 einzusparen. Menschen telefonieren wieder miteinander, schreiben sich womöglich wieder Briefe, machen lange Spaziergänge und organisieren Nachbarschaftshilfen.

Krisenzeiten eignen sich hervorragend als Projektionsflächen für alle möglichen utopischen Wünsche und dystopischen Ängste. Trotzdem: Die Corona-Krise zeigt, dass Entschleunigung, Suffizienz, Müßiggang und Achtsamkeit keine Konzepte unbelehrbarer romantischer Weltverbesserer darstellen, sondern Praktiken, die erlernt werden können und praktisch umsetzbar sind (und vor dem Hintergrund der hohen Rate an „Burn-out-Erkrankungen“ in Deutschland auch nach Corona umgesetzt werden sollten!). Auch Ideen von regionalem Wirtschaften und fairen globalen Lieferketten können von den Entschleu-nigungserfahrungen profitieren. Weniger konsumieren und dafür auf die sozial-ökologische Qualität und Fairness des Produktes sowie seine Langlebigkeit zu achten, steht den Industrienationen gut zu Gesicht und dient langfristig gesehen ihren eigenen ökologischen Überlebensinteressen.

Die Corona-Krise bietet die Chance sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und Fragen zu stellen, die viele Menschen in der hyperbeschleunigten Arbeitsgesellschaft häufig vor sich herschieben: Worum geht es wirklich im Leben? Was ist mir wichtig? Was bedeutet Endlichkeit für mich und für den Planeten? Soziologischer: Wie können wir unsere komplexen sozialen Systeme so (demokratisch) einrichten, dass mehr Licht (die Metapher der Aufklärung schlechthin!) in die „black box“ hineinscheint? Politischer: Stellen renditegesteuerte Steigerungslogiken eigentlich für wenige oder viele einen Gewinn dar?

Mehr Zeit für politische Bildung und, so pathetisch das klingen mag, für das ästhetische Verweilen im Augenblick, könnten den Menschen helfen, sich wieder mehr aus dem „stahlharten Gehäuse der Hörigkeit “ des administrierten Kapitalismus zu befreien, um ein berühmtes Zitat des Soziologen Max Weber zu bemühen. Langsam, gemächlich, achtsam, aber wenn es sein muss auch mal in Form eines leidenschaftlichen zivilgesellschaftlichen Widerstands.

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